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„Mit Unterstützung geht alles“

Mohammed floh vor Jahren aus Syrien, inzwischen ist er in einer WG in München zuhause. Wie Zusammenleben das Ankommen leichter macht. Von Leonie Sanke

Eigentlich sollte die Geschichte von Mohammed Abbas, 27, und seiner WG keine besondere sein: Er brauchte ein Zimmer in München und fand eines. Jetzt wohnt er mit sieben anderen Studierenden in einer Wohnanlage des Münchner Studentenwerks. Wenn es etwas zu feiern gibt, macht er für alle Baklava. Die deutsche Variante, mit extra wenig Zucker. „Da habe ich mich wirklich gut integriert“, sagt Mohammed und lacht. An diesem Abend im Herbst trägt er silberne Platten voller Auberginen, Zucchini und Reis in das Wohnzimmer der WG. Als alle satt auf den zusammengewürfelten Sofas sitzen, erzählt er seine Geschichte. Sie beginnt mit seiner Flucht aus Syrien Anfang 2015: im Schlauchboot von der Türkei nach Griechenland, teils tagelang zu Fuß weiter über Mazedonien, Serbien, Ungarn und Österreich bis nach Deutschland. 

Mohammed schrieb eine Bewerbung nach der anderen – und bekam keine Einladung

Als Mohammed damals in Deutschland ankam, war die Hilfsbereitschaft so groß, wie die Zahl der Asylbewerber*innen hoch war. Und eine NGO, die für Mohammed später wichtig werden sollte, wurde in den Medien als Erfolg gefeiert: „Zusammenleben Willkommen“, eine Plattform, über die man Zimmer an Geflüchtete vergeben konnte. Noch immer suchen jährlich mehr als 100 000 Menschen Asyl in Deutschland. Doch wie steht es heute um die Solidarität mit Geflüchteten? Die Geschichten von Mohammed und „Zusammenleben Willkommen“ zeigen, dass es noch immer viel Glück und die Unterstützung Einzelner braucht, um sich als geflüchtete Person auf dem deutschen Wohnungsmarkt zu behaupten – und damit in der Gesellschaft anzukommen.

Mohammed ist einer von vielen männlichen Geflüchteten mit weiterführendem Schulabschluss, die es für den Job oder die Ausbildung in die großen Städte zieht. Doch diese Ballungszentren machen es ihnen mit ihren überteuerten Mieten besonders schwer. Dazu kommen rassistische Einstellungen und Vorbehalte vieler Vermieter*innen, aber auch vieler WGs. Als Mohammed die Zusage für den Studiengang „Deutsch als Fremdsprache“ an der Ludwig-Maximilians-Universität erhielt, suchte er von Regensburg aus nach einem Zimmer in München. In Regensburg, wo er auch seine ersten Monate in Deutschland in einer Gemeinschaftsunterkunft verbracht hatte, lebte er bereits in einer eigenen Wohnung. Das habe er dem örtlichen Helferkreis zu verdanken gehabt – „krank nette Menschen“.

Anders als in Regensburg kannte er in München niemanden. Also durchsuchte er WG-Plattformen und Facebook-Gruppen. Zu Beginn fand er nur ein Kellerzimmer, das er jedes Wochenende räumen musste. Eine Notlösung. Er schrieb eine Bewerbung nach der anderen – und bekam keine einzige Einladung zur Besichtigung. Bis er nach zwei Monaten einen Post auf Facebook sah: Eine Achter-WG wollte ihr freies Zimmer mithilfe der Organisation „Zusammenleben Willkommen“ an eine geflüchtete Person vergeben.

Dass Mohammed und seine heutigen Mitbewohner*innen einander fanden, haben sie auch Mareike Geiling und Jonas Kakoschke zu verdanken. Sie hatten die Idee zum Projekt „Flüchtlinge Willkommen“, das später zu „Zusammenleben Willkommen“ wurde. 2014 wohnten die beiden in Berlin in einer WG, unweit vom Oranienplatz in Kreuzberg, den damals Geflüchtete besetzt hatten, um gegen die Asylpolitik zu protestieren. Als eines ihrer Zimmer frei wurde, sahen sie darin eine Möglichkeit, sich zu engagieren. „Wir wollten das Zimmer jemandem geben, der es auf dem Wohnungsmarkt schwerer hat als ein Start-up-Praktikant“, erzählt Mareike. Und ihnen war schnell klar, dass sie auch anderen dabei helfen wollten, Geflüchteten auf diese Art Wohnraum zu bieten.

„Und dann kam die große Kurve nach unten“

Sie  bauten eine Website, auf der Privatpersonen Zimmer anbieten konnten. Die Facebook-Seite dazu gefiel schon nach ein paar Tagen etwa 1000 Menschen, nach zwei Monaten gab es 400 Zimmeranmeldungen und nachdem Mareike und Jonas so ziemlich jedem deutschsprachigen Medium ein Interview gegeben hatten, fragten auch BBC und CNN an. Im September 2015, als in nur einem Monat etwa 164 000 Asylsuchende in Deutschland ankamen, erreichte die Bereitschaft, ein Zimmer über „Zusammenleben Willkommen“ anzubieten, den Höhepunkt. Eine „krasse Zeit“, erinnert sich Mareike. „Und dann kam die große Kurve nach unten.“

Die Schließung der Balkan-Route, die Anschläge in Paris, die Silvesternacht in Köln, der Aufstieg der AfD. „Plötzlich ging alles kontinuierlich runter – die Anmeldungen, die Supporter-Angebote, die Spenden.“ Ihre NGO, die aus der Website entstanden war, hielt trotzdem durch. Inzwischen finanziert sie sich vor allem über zwei Förderungen, eine davon vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Monatlich melden sich zwar noch 40 bis 50 interessierte WGs, doch nur ein Bruchteil der Anfragen endet mit einer erfolgreichen Vermittlung. Meistens scheitert es schon am zeitlichen Rahmen – etwa daran, dass ein Zimmer nur für eine kurze Zwischenmiete zur Verfügung steht. Oder daran, dass die WG zu konkrete Vorstellungen von den zukünftigen Mitbewohner*innen hat. Übrig bleiben viel zu wenige Angebote, um den Bedarf zu decken, sagt Mareike – monatlich wenden sich bis zu 200 Geflüchtete an die NGO.

Auch die Münchner WG, in der Mohammed heute lebt, meldete sich Ende 2018 mit ihrem Zimmerangebot bei „Flüchtlinge Willkommen“. Eine Mitarbeiterin der NGO ging mit Mohammed zur Besichtigung, alle waren voneinander überzeugt. An Neujahr 2019 zog Mohammed ein, die WG erwachte gerade aus dem Silvester-Koma. „Überall lagen irgendwelche Menschen, alles hat geklebt und nach Bier gestunken“, erzählt die ehemalige Mitbewohnerin Larissa lachend. „Wir dachten: Oh Gott, das muss so ein krasser Kultur-Clash für ihn sein.“

Seine neuen Mitbewohner*innen machten sich Gedanken, die sie sich sonst nicht machen

Vor Mohammeds Einzug hatten sich seine zukünftigen Mitbewohner*innen Gedanken gemacht, die sie sich bei Bewerber*innen ohne Fluchtgeschichte nie gemacht hatten. „Wir haben befürchtet, dass er sich eher zurückzieht und wir nicht so ein cooles Miteinander haben. Aber das hat vielleicht zwei Tage gedauert und die Bedenken waren weg“, erzählt der ehemalige Mitbewohner Paul. Als Mohammed das erste Mal für alle kochte, saßen etwa 30 Leute an einer langen Tafel auf dem Boden. Die Fotos von diesem Abend hängen neben vielen anderen WG-Erinnerungen über Mohammeds Schreibtisch. Das Kennenlernen sei sehr spannend gewesen, sagt Mitbewohnerin Eva. Mohammed erzählte viel von Syrien und korrigierte damit so manche falsche Vorstellung, die seine Mitbewohner*innen vom Leben dort hatten. Auch Pauls Befürchtung, es könne ein Thema sein, dass Mohammed Muslim ist, stellte sich bald als unbegründet heraus. Dass Mohammed bei WG-Partys oft als einziger von 200 Leuten keinen Alkohol trank, hinderte ihn ja nicht daran, zu tanzen und zu feiern.

Die Mitarbeiter*innen, die bei „Zusammenleben Willkommen“ zwischen Geflüchteten und WGs, Familien oder Einzelpersonen mit freien Zimmern vermitteln, stellen beiden Seiten erst einige Fragen, um herauszufinden, wer miteinander als Gemeinschaft funktioniert. Die wichtigste: Wie stellen sie sich das Zusammenleben vor? Dazu verpflichtet, Verantwortung für die geflüchtete Person zu übernehmen, sei niemand, stellt Mareike klar. Falls das Zusammenleben mal doch nicht so funktioniert wie erhofft, sind die Mitarbeiter*innen der NGO weiterhin ansprechbar.

Das nette Projekt „Zusammenleben Willkommen“ ist heute eine kritische NGO

Das Team sortiert auch immer wieder Zimmerangebote aus. „Alles, was offen sexistisch oder rassistisch ist natürlich“, sagt Mareike. Manche verlangen Gegenleistungen wie Babysitten und Männer schreiben auch mal, sie hätten gerne zwei junge Syrerinnen. „Ein machtkritisches Zusammenleben ist uns sehr wichtig“, sagt Mareike. Vieles hätten sie und ihre anfangs ausschließlich weißen Mitstreiter*innen erst lernen müssen. Etwa, dass es für manche People of Color keine Option ist, mit Weißen zusammenzuleben. „Das konnten wir am Anfang überhaupt nicht nachvollziehen. Aber dann haben wir gelernt, wie wichtig es für viele PoC ist, einen Safe Space zu haben, in dem alle ihre Rassismuserfahrungen teilen.“

Auch ihre eigene Rolle haben Mareike und ihr Team erst mit der Zeit reflektiert. Nach einem Antirassismus-Training beschlossen sie, das Wort „Flüchtlinge“ aus ihrem Namen zu streichen, da der Begriff stigmatisiert und Menschen reduziert, und die Projektleitung und damit die Macht innerhalb der Organisation abzugeben. „Das ist uns ja zugeflogen, wir haben uns das Thema Flucht und Migration ohne jede Expertise angeeignet und die Lorbeeren dafür eingeheimst“, sagt Mareike. Das zu realisieren, sei bitter gewesen, aber wichtig. „Seit wir mehr PoC als weiße Menschen im Team sind, sind wir so viel besser geworden.“ Und politischer. Aus dem netten Projekt ist eine NGO geworden, die ausspricht, was in Deutschland schiefläuft.

Die Organisation geht davon aus, dass derzeit mindestens 330 000 Menschen in Deutschland, wie Mohammed zu Beginn, in Sammelunterkünften leben. Diese stehen schon lange in der Kritik – wegen mangelnder Privatsphäre und Sicherheit, vor allem für Frauen. Dazu kommt, dass sie die Integration der Bewohner*innen behindern und rassistischen Protest der örtlichen Bevölkerung anheizen können. Und spätestens seit der Corona-Pandemie sind Sammelunterkünfte nicht mehr nur ein Risiko für die Psyche der Bewohner*innen. Laut Robert Koch-Institut waren die Covid-19-Ausbrüche in Flüchtlingsunterkünften mit am größten.

Die Möglichkeit, in einer eigenen Wohnung anzukommen, bekam Mohammed nach fünf Monaten. Andere warten länger darauf, dass ihr Schutzstatus anerkannt wird. Oder finden keine bezahlbare Wohnung, in die sie ziehen könnten. „Fehlbeleger“ nennen die zuständigen Ämter diese Menschen, die gegen teils nicht geringe Gebühr länger in ihrer Unterkunft bleiben, als sie eigentlich müssten. In München betraf das 2018 mehr als 40 Prozent der Geflüchteten mit abgeschlossenem Asylverfahren.

Mohammed steht im Kampf um Wohnraum inzwischen selbst immer wieder auf der Seite der „Mächtigen“. Wenn er und seine Mitbewohner*innen ein Zimmer zu vergeben haben, bewerben sich ab und zu Menschen, die offenbar auch geflüchtet sind. „Die schaffen es oft nicht zum Casting“, erzählt Mohammed. Die Deutschen hätten da ein sehr eigenes System: „In so einer Bewerbung muss man viel über sich schreiben. Wenn einem nicht zufällig jemand sagt, dass das wichtig ist, weiß man das nicht und schreibt nur das Nötigste. Natürlich werden die Deutschen da bevorzugt.“

„Mit Unterstützung geht alles“

Von der „Willkommenskultur“, die 2015 und 2016 noch so viele dazu bewegte, ihre Vorurteile und Bedenken bewusst zu überwinden, ist heute nicht mehr viel übrig. „Vor fünf Jahren waren wir noch die total offenen Deutschen, die ihre Wohnung mit einer geflüchteten Person teilen“, sagt Mareike von „Zusammenleben Willkommen“. „Heute machen wir genau das Gleiche und sind nicht mehr attraktiv. Das Thema ist out. Böse gesagt ist man heute stattdessen vegan.“ Inzwischen erzeugt erst ein brennendes Flüchtlingslager die mediale Aufmerksamkeit, die Mareike und ihr Team für ihr Anliegen brauchen.

Mohammeds Aufenthaltsstatus in Deutschland ist mittlerweile unbefristet. Nach Damaskus zurückzukehren, wo seine Eltern noch immer leben, ist für ihn keine Option. „Wenn ich jetzt nach Syrien fliege, warten die am Flughafen auf mich – leider nicht mit Blumen, sondern mit Waffen“, sagt Mohammed. Er hat seine Heimat verlassen, um nicht in den Krieg ziehen zu müssen. Nochmal würde das Militär ihn nicht davonkommen lassen. Auch wenn er Regensburg, den Ort, an dem er so viel Hilfsbereitschaft erfahren hat, als seine eigentliche Heimatstadt in Deutschland sieht, fühlt er sich wohl in München. Doch bald wird er sich hier wieder dem Mietmarkt stellen müssen. Da seine WG dem Studentenwerk gehört, muss er ausziehen, sobald er sein Studium abgeschlossen hat.